Der Schatten des Domes

Leseprobe

Magdeburg,  April 1207

 

Der Frühling war den Fluss herauf gekommen. Er hatte das Wintergrau von der Stadt genommen und ein erstes zartes Grün darüber gelegt. Dom, Mauern und Kirchen spiegelten sich im Wasser der ruhig fließenden Elbe. Auf die Fachwerkhäuser  fiel die Morgensonne und stahl sich in die Fenster der Bürger.

Johanne, die Tochter des Goldschmiedes Dietrich, schreckte aus dem Schlaf auf, als im Haus ein tönernes Gefäß zu Bruch ging. Ihr fiel ein, welch ein Tag heute war. Rasch sprang sie auf, lief zum Fenster und drückte die hölzernen Fensterläden auf. Wie an jedem Morgen fiel ihr Blick auf den Dom. Hoch erhoben sich seine Türme über die Dächer der Nachbarhäuser. Kaiser Otto hatte ihn erbauen lassen. Er und die Königin Editha, seine früh verstorbene erste Gemahlin, lagen darin begraben. Jahr für Jahr kamen viele Pilger nach Magdeburg, um den prächtigen Dom zu besuchen und am Grabe Edithas zu beten. Großmutter hatte ihr erzählt, dass Magdeburg die Morgengabe der Prinzessin gewesen war, als sie den Prinzen Otto geheiratet hatte, und dass das Paar die Jahre bis zur Krönung Ottos zum König überwiegend hier, in seiner Lieblingspfalz, verbracht hatte. Editha soll sich hier sehr wohl gefühlt haben, weil die Auenlandschaft mit der Elbe sie an ihre englische Heimat erinnert hatte.

Auch Johanne liebte ihre Stadt. Sie konnte sich keine schönere vorstellen. Dass dieses vertraute Bild schon eine Woche später für immer verschwunden sein würde, konnte sie nicht ahnen.

 

Johanne musste sich beeilen. Es war der Sonntag vor Ostern, Palmsonntag,  doch statt der üblichen Prozession, die man alljährlich zur Erinnerung an den Einzug des Erlösers in Jerusalem feierte, würde man heute den Einzug des neuen Erzbischofs, Albrecht von Käfernburg, in Magdeburg erleben. Großmutter und Vater hatten ihr versprochen, dass sie sich den Zug all der hohen Gäste ansehen würden. Auf dieses Ereignis freute sich die ganze Stadt, sah man doch selten so viele prächtig gekleidete Damen und Herren, die von überallher aus dem gesamten Reich gekommen waren. Für den Nachmittag und Abend waren allerhand Lustbarkeiten zu erwarten. Johanne nahm rasch ihr Sonntagsgewand aus der Truhe und zog es über, kämmte und flocht ihr Haar und griff nach dem kleinen Schleier. Großmutter würde ihr damit helfen. Johannes Kleid war mehr als bodenlang, wie man es seit kurzem trug, und sie gürtete es nicht. So fiel der dünne Stoff in reichen Falten bis zur Erde. Sie fand, dass sie dadurch größer wirkte, als sie war. Allerdings hatte das lange Gewand eindeutig auch Nachteile: ständig musste man aufpassen, dass man nicht darauf trat und hinfiel.

 

Nachdem sie in die weichen Lederschuhe geschlüpft war, eilte sie hinunter in die Küche, wo Großmutter sie lächelnd begrüßte. Auch sie trug ihre Festtagskotte, ein Gewand aus feinem Leinen in einem kräftigen Grün, das an den Ärmeln und am Halsausschnitt mit feinen Ranken bestickt war. Johanne fand, dass Großmutter trotz ihres hohen Alters, sie musste schon über fünfzig Jahre alt sein, noch eine schöne Frau war. Zwar war ihr Haar schon fast weiß, aber ihre blauen Augen waren noch immer klar, sie war schlank und hielt sich sehr gerade. Das Gebende, die Leinenbinde um Kinn und Wangen, die man seit einigen Jahren trug, brachte ihre feinen Züge zur Geltung, und auf dem Kopf trug sie einen schmalen Goldreif mit Verzierungen, das Schapel, über dem kurzen Schleier. Großmutter konnte wundervoll sticken und hatte sowohl ihren eigenen als auch Johannes Schleier mit einer feinen Blütenkante versehen. Jetzt nahm sie Johanne den Schleier aus der Hand, legte ihn dem Mädchen geschickt über das Haar und befestigte einen Kranz aus Blüten und Grün darauf, den sie am frühen Morgen gebunden hatte. Dann trat sie einen Schritt zurück und blickte stolz auf ihre Enkelin. Johanne war jetzt dreizehn Jahre alt. Ihr offener Blick und die zierliche Gestalt erinnerten Mathilde an Johannes Mutter, die bei der Geburt des zweiten Kindes gestorben war. Und doch war dieses Kind etwas ganz Eigenes. Im Charakter und Betragen des Mädchens zeigte sich eine Empfindsamkeit, die sie nicht zuordnen konnte, nicht dem Sohn, der fleißig, aber still und etwas eigenbrötlerisch war, nicht der sehr jung verstorbenen, etwas flinkzüngigen Schwiegertochter, auch nicht sich selbst oder ihrem verstorbenen Mann, und Mathilde fragte sich oft, nach wem das Mädchen wohl geraten sein mochte. Nach dem Tod seiner Frau hatte Johannes Vater sich nicht wieder verheiratet, obwohl es einige Jungfrauen und junge Witwen gegeben hatte, die gern in das schöne Haus an der Goldschmiedebrücke eingezogen wären. Doch Meister Dietrich hatte stets so getan, als bemerke er gar nicht, dass sie ihm schöne Augen machten, wenn sie den Schmuck in seiner Werkstatt bewunderten oder ein Stück zur Reparatur brachten. Anfangs hatte Mathilde gehofft, ihr Sohn würde sich wieder vermählen, aber Jahr für Jahr war vergangen, ohne dass er es ernsthaft erwogen hätte. Und so war es gekommen, dass sie die Enkelin aufzog, und es hatte ihr viel Freude bereitet.

 „Beeil dich, Johanne! Wenn wir etwas sehen wollen, müssen wir rechtzeitig beim Sudenburger Tor sein. Der Erzbischof wird wohl kaum auf uns warten!“ Ulrich, der Lehrling ihres Vaters und Johannes bester Freund, kam mit einem frisch geschnittenen Zweig von der Linde im Hof in die Küche gestürmt. Johanne hätte sich beinahe an ihrer Grütze verschluckt, die sie schnell im Stehen aß, um ihr Kleid nicht zu zerdrücken. Kaum hatte sie die Schale geleert, ergriff Ulrich ihre Hand und zog sie mit sich hinaus auf die Straße. Überall waren Menschen mit Zweigen in den Händen in Richtung des Breiten Weges unterwegs. Die Zweige würden später im Gottesdienst gesegnet werden und anschließend einen Platz im Haus finden.

Seit Tagen schon war die Stadt voller Menschen. Zu beiden Seiten des Breiten Weges, der wichtigsten Straße der Stadt, hatten sich bereits Hunderte von Schaulustigen aufgestellt und erwarteten gespannt die Prozession mit dem neuen Erzbischof. Ulrich und Johanne aber wollten den eigentlichen Einzug des neuen Metropoliten in die Stadt am südlichen Stadttor sehen. Die beiden jungen Leute liefen Meister Dietrich und der Großmutter voraus und drängten sich nah beim Sudenburger Tor durch die Menge hindurch nach vorn. Geschickt nutzten die beiden kleinere Zwischenräume und bemühten sich, niemanden zu stoßen. Trotzdem ernteten sie das Murren der Umstehenden. Das Mädchen blickte entschuldigend um sich. Ihre Wangen waren vom Laufen gerötet und in ihrem Festkleid mit dem Blütenkranz auf dem Schleier sah sie so hübsch aus, dass ihr niemand ernsthaft böse sein konnte. Als sie endlich vorn in der ersten Reihe standen, wischte sie sich mit dem Ärmel ihres Kleides über die Stirn. Ulrich sah sie lächelnd an. „Was hast du?“, fragte sie.

„Eine Dame tut so etwas nicht.“

„Was?“

„Sich so ungeniert in aller Öffentlichkeit den Schweiß von der Stirn wischen.“

„Ich bin aber keine Dame!“ protestierte sie.

„Gott sei Dank!“, lachte Ulrich. Johanne strich sorgfältig eine Haarsträhne, die ihr beim Laufen ins Gesicht gefallen war, unter den Schleier zurück und bemühte sich, die Falten ihres Kleides zu ordnen. Dann setzte sie ein ernstes Gesicht auf und sah ihren Freund an. „Besser so?“ „Ich würde sagen, dem Anlass angemessen.“ Beide mussten lachen.

„Lange hat er auf die Bestätigung des Papstes warten müssen, der neue Erzbischof!“, hörten sie eine Stimme hinter sich. Johanne wandte sich halb um, um zu sehen, wer da sprach. Sie kannte den gut gekleideten Mann nicht, und auch nicht den neben ihm Stehenden, der nun erwiderte: „Es wird ihm eine Genugtuung sein, nun endlich sein Amt antreten zu können, nach all den Wirren. Anderthalb Jahre hat ihm der Papst die Bestätigung verweigert. Und wenn König Philipp militärisch nicht gerade im Vorteil wäre,müsste unser neuer Erzbischof wohl noch immer auf das Pallium warten."

„Da magst du Recht haben. König Philipp hat zwar den Erzbischof damals gleich nach der Wahl durch das Domkapitel mit den Regalien belehnt, aber da stand der Papst noch ganz auf der Seite des Welfen und hat ihm die Bestätigung verweigert. Doch jetzt hat sich die Sache wohl gedreht. Dass er Albrecht zu Weihnachten in Rom nun doch zum Erzbischof geweiht hat, scheint mir ein deutliches Zeichen für den Seitenwechsel des Papstes.“

„Wollen wir hoffen, dass es nun endlich Frieden gibt und unsere Geschäfte wieder besser gehen.“

„So Gott will und…“ antwortete sein Nachbar.

„Da kommt er!“, unterbrach ihn der Andere und deutete in Richtung der Vorstadt.

Die Hochrufe der Menschen, die auch in der Vorstadt zu beiden Seiten der Straße standen, kamen nun schnell näher, und endlich hatte der Zug die Stadtgrenze erreicht. Der Erzbischof schritt feierlich durch das große hölzerne Tor. Er trug kostbare Messgewänder, eine Kasel aus roter Seide mit reicher Stickerei und darauf das Pallium mit den sechs schwarzen, in Seide gestickten Kreuzen, das Zeichen der ihm vom Papst verliehenen Vollgewalt sowohl in kirchlichen wie in weltlichen Fragen. Die Mitra auf seinem Kopf war reich bestickt und mit kleinen Edelsteinen verziert. Albrecht war ein stattlicher Mann von siebenunddreißig Jahren mit aufmerksamem Blick, den er nun über die jubelnde Menge gleiten ließ. Segnend und grüßend hob er die Hand.

Johanne bewunderte die Anmut und Würde, mit der er den langen Bischofsstab beim Gehen einsetzte. Ministranten trugen ihm echte Palmzweige voran. Dies geschah zur Erinnerung an Jesu Einzug in Jerusalem, dem die Menschen Palmzweige auf den Weg gestreut hatten, wusste sie. Hinter dem Bischof schritten der Stab- und der Mitraträger sowie der Zeremoniar. Ihnen folgten, immer zu zweien, Bischöfe aus allen Teilen des Reiches sowie die Herren des hiesigen Domkapitels, alle ebenfalls prächtig gekleidet. Nach den Geistlichen hatten sich viele adlige Gäste aus nah und fern in die Prozession eingereiht. Rundum hörte man ein erstauntes Raunen angesichts der prächtigen Stoffe, der leuchtenden Farben, der Stickereien und des Schmuckes auf den Gewändern. Auf die Adligen folgten Abgesandte der Gilden der Händler und der Zünfte der Handwerker mit ihren Fahnen und Abzeichen. Dann war der Zug vorüber und man hörte, wie sich die Hochrufe am Breiten Weg entlang fortsetzten.

Ulrich ergriff Johannes Hand und flüsterte ihr zu: „Schnell, zum Dom!“ Er zog sie durch das sich auflösende Spalier der Schaulustigen, und weil er jeden Winkel und jede Gasse kannte, die vom Breiten Weg zum Dom führte, waren sie in Windeseile dort angelangt, ohne sich erneut durch die Menge kämpfen zu müssen. Ulrich führte Johanne nicht über den schönen ummauerten Vorhof zum Portal der Kathedrale, wo sich bereits viele Magdeburger drängten, sondern öffnete eine der Seitentüren der Kirche und ließ Johanne hineinschlüpfen. Sie stellten sich im Seitenschiff direkt an den Ausgang zum Bischofspalast. Ulrich hoffte, dass der Zug der Geistlichen nach der Messe diesen Weg nehmen würde. Als sich die Kirche gefüllt hatte und  der neue Erzbischof feierlich an der Spitze des gesamten Domkapitels in seine Kathedrale eingezogen war, begann die Messe.

Obwohl sie den Dom seit ihrer Kindheit kannte, war Johanne überwältigt. Die prächtigen Gewänder der Geistlichen und hohen Gäste, die kostbaren goldenen Messgerätschaften, der Weihrauch, die Feierlichkeit, mit der der neue Erzbischof die Messe abhielt, der kraftvolle Gesang der Gläubigen, und die vielen, vielen Menschen, die sich in der Kathedrale drängten! Sie ließ ihren Blick hinauf zu den Bildnissen wandern, die in prächtigen Farben die Wände schmückten und das Leben und Sterben Jesu darstellten. Weiter hinauf ging ihr Blick zu den Bögen des Gewölbes aus Tuffstein und zu den großen kostbaren Leuchtern, deren Licht die Wandmalereien erhellte. Johanne wusste, dass es keine vergleichbare Kirche in ganz Sachsen gab. Die marmornen Säulen hatte Kaiser Otto dereinst aus Italien über die Alpen herbeiführen lassen. In jede Säule war auf Anweisung des Kaisers beim Bau des Domes eine Reliquie eingearbeitet worden. Johanne fragte sich, ob man sich eine kostbarere Kirche überhaupt denken konnte.

Schließlich war die Messe vorüber und die Geistlichen zogen gemessenen Schrittes aus der Kirche.  Bewegung kam auch in die vielen Menschen, die der Messe beigewohnt hatten. Wo waren Großmutter und der Vater geblieben? Johanne wusste es nicht, aber Ulrich war an ihrer Seite und gab ihr Sicherheit.

Ulrichs Plan war aufgegangen, der Zug nahm den Ausgang, an dem er mit Johanne stand. Ganz nah konnten sie den neuen Erzbischof nun sehen. Johanne meinte, Freude und Stolz in seinem Blick zu lesen, während er gemessenen Schrittes die Kirche verließ. Während der Zug der Geistlichen und der hohen Gäste an ihnen vorüber aus der Kirche schritt, spürte Johanne plötzlich den Blick eines der Geistlichen auf sich gerichtet. Ein kleiner Mann mit dunklen Augen und dunklem Haar starrte sie unverwandt an, während er mit dem Ende des Zuges langsam auf sie zukam und schließlich an ihr vorüber ging. Johanne war rot geworden und hatte den Blick gesenkt. Ulrich hatte den Blick bemerkt und den Mann wütend angesehen. Er zweifelte allerdings, ob der ihn überhaupt wahrgenommen hatte, so gebannt war dessen Blick auf Johanne gerichtet gewesen. Verstimmt und beunruhigt geleitete er Johanne nach Hause.

Die Ereignisse jedoch, die bald darauf folgten, ließen den Vorfall in Vergessenheit geraten.