Leseprobe aus (Mord im Ratshauskeller)

Magdeburg Dezember 1276

 

‚Welch‘ ein herrlicher Wintertag‘, dachte Erich von Brandenburg und blickte über die Mauer der Bischofsresidenz nach Osten. Die Sonne stand klein und rötlich über der Elbaue auf der anderen Seite des Flusses, die Luft war klar und kalt. Erich wartete. Im Innern des Palastes fand gerade die Wahl zum neuen Erzbischof statt, er hatte gegen Burchard von Querfurt kandidiert.

Erich war nur mäßig zuversichtlich, was den Ausgang der Wahl betraf. Zwar waren sein Bruder Otto,  der Markgraf von Brandenburg, und sein Vetter Albrecht, der Herzog von Braunschweig, gekommen, um ihn bei der Wahl zu unterstützen. Doch reichte das aus, um die Mehrheit im Domkapitel zu erlangen? Er erinnerte sich daran, wie sehr sich die Magdeburger Domherren dagegen zur Wehr gesetzt hatten, als sein Bruder ihn hier als Domherr einsetzen wollte. Nicht einmal der Befehl des Papstes hatte den gewünschten Erfolg gebracht und ihm ein Kanonikat beschert. Erst vor sieben Jahren war es endlich gelungen. Warum also sollten sie ihn jetzt zum Erzbischof wählen? Aus Angst vor seinem Bruder vielleicht… Oder wegen der Bestechungsgelder, die sein Bruder verteilt hatte? Unter den zur Wahl berechtigten Domherren war auch Albrecht von Arnstein, der das Amt des Dompropstes innehatte. Die Arnsteiner Grafen waren die treuesten Vasallen der Brandenburger Markgrafen. Dompropst Albrecht hatte unter den Mitgliedern des Domkapitels für ihn geworben, auch wohl die Bestechungsgelder seines Bruders gelenkt. Doch mehrere der Herren, die für ihn stimmen wollten, hatte er heute noch nicht gesehen. Wo waren die?

Erich fror. Er konnte seinen Kontrahenten sehen,  der in der Nähe der Tür zur Residenz stand und zu beten schien. Oder gab er das nur vor und beobachtete ihn?

Beide Männer mussten auf das Ergebnis der Wahl warten. Quälend lang. Die Kälte  kroch unter die Gewänder. Die Männer hatten die Hände in den Ärmeln vergraben und nahmen sie nur ab und an heraus, um sie mit ihrer Atemluft zu erwärmen. Die beiden Bewerber belauerten einander. Natürlich könnten sie auch in einem der wenigen beheizten Räume im Innern des Palastes dem Ergebnis der Wahl entgegen sehen, aber da man sie gebeten hatte, draußen zu warten, bis man sie hereinholen würde, wagte keiner von beiden, den Hof zu verlassen. Es kam Erich mittlerweile vor, als sei das Warten in der klaren Kälte zu einem Kräftemessen geworden.

Er war jetzt zweiunddreißig Jahre alt. Bis vor sieben Jahren hatte er als Domherr in Halberstadt gelebt. Dann hatten seine Brüder hier die Domherrenstelle für ihn durchgesetzt und darauf gedrungen, dass er endlich nach Magdeburg ginge und seine Position auf- und ausbaute. Was ihm wegen des fortgesetzten Widerstands Erzbischof Konrads  sehr schwer gefallen war. Und jetzt, nach dem Tode Konrads, wollte er sich zum Erzbischof wählen lassen. Er fühlte sich dazu berufen und befähigt, wusste aber auch, dass seine Brüder das Erzstift in die Hand der Familie bringen wollten. Das Magdeburger Gebiet grenzte an das der Askanier. Es war ein reiches Land. Und immer wieder hatte es Auseinandersetzungen zwischen den Brandenburger Markgrafen und den Magdeburger Erzbischöfen gegeben. Wenn Erich hier Erzbischof wäre, müssten seine Brüder keine Auseinandersetzungen mehr fürchten.

Erich versuchte sich zu erinnern, wann das Streben der verschiedenen Fürsten begonnen hatte, sich geistlicher Gebiete zu bemächtigen. In seiner Jugend war dies unmöglich gewesen, die starke Macht des Kaisers hatte den Bistümern und Erzbistümern den notwendigen Schutz geboten. Doch in den Wirren nach des Staufenkaiser Friedrichs Absetzung und besonders nach seinem Tod waren die Fürsten immer mächtiger geworden und hatten Begehrlichkeiten entwickelt, Begehrlichkeiten, die nun ihn, Erich, in eine zwiespältige Lage brachten. Früh schon war er zur geistlichen Laufbahn bestimmt worden. Er hatte seine Kindheit und Jugend daher nicht bei seiner Familie, den Askaniern, verbracht, die eines der ältesten deutschen Fürstengeschlechter waren, sondern in einem Kloster. Trotz der eingetretenen Distanz wurde von ihm erwartet, dass er sich den Ansprüchen der Familie in Gestalt seiner beiden älteren Brüder beugte, ihren Willen ausführte. Bis zum heutigen Tage hatte er das nie infrage gestellt. Doch jetzt, möglicherweise vor seiner Ernennung stehend, kamen ihm Zweifel. Würde er als Erzbischof des reichen Magdeburger Gebietes und als Herr dieser Stadt in Kauf nehmen, dass der Reichtum dieser Stadt und des Gebietes, dessen Sachwalter er sein würde, nach Brandenburg abfloss? Würde er jeden Feldzug seiner Brüder als Bundesgenosse militärisch unterstützen müssen? Würde er auf diese Weise seinem Amte gerecht? Er fragte sich, ob nicht die Interessen des Erzbistums über denen seiner Brüder zu stehen hätten, wenn er erst einmal der Herr über Stadt und Land wäre.

Trotz dieser Zweifel hatte er brav kandidiert, wie seine Brüder es gewünscht hatten, und wartete nun hier in der Kälte auf das Wahlergebnis. Nein, es war nicht so, dass er lieber auf die Kandidatur verzichtet hätte. Aber es wäre ihm lieber, wenn ihm seine Brüder ein wenig mehr Spielraum für eigene Entscheidungen ließen. Das aber würde nie eintreten, dessen war er sich sicher. Und die Bürger der Stadt wussten dies auch, denn sie hatten durchgesetzt, dass die Einflussreichsten unter ihnen an der Wahl teilnehmen konnten. Sie standen sämtlich auf der Seite seines Kontrahenten, des angesehenen Burchard von Querfurt.

Während Erich sich diesen Betrachtungen hingab, drang plötzlich aus dem Palast ein Gebrüll in die Stille des Hofes, das er nur zu gut kannte: Sein Bruder Otto. Er hörte die Wut in der Stimme und wusste, dass die Wahl verloren war. Auch sein Gegenkandidat Burchard schien das zu vermuten, wie ein Aufleuchten seines Gesichts verriet. Die Tür wurde aufgestoßen, ein Knäuel aus Domherren, Magdeburger Bürgern und dem Markgrafen von Brandenburg drängte ins Freie. Erich eilte zu seinem Bruder, um zu erfahren, was geschehen war. „Burchard ist gewählt, nicht du!“, war alles, was ihm von seinem Bruder zugerufen wurde, bevor der davonstürmte, aus dem Tor hinaus, nicht ohne wütende Drohungen gegen die Domherren und gegen die Magdeburger Bürger auszustoßen. Erich eilte ihm nach. Erst auf dem weitläufigen Platz, den man den Neuen Markt nannte und der sich zwischen der Baustelle des Doms, dem erzbischöflichen Palast und den Häusern der Domherren erstreckte, holte er den Aufgebrachten ein. Er zog den sehr viel Größeren und Kräftigeren am Ärmel, um ihn aufzuhalten. Der riss sich wütend los, wandte sich dann aber seinem jüngeren Bruder zu und wiederholte: „Sie haben Burchard von Querfurt gewählt. Die Bürger, diese Pfeffersäcke, müssen die Domherren unter Druck gesetzt haben! Meine Bestechungsgelder haben nichts dagegen ausgerichtet. Aber das sollen sie mir büßen! Ich verkünde der Stadt die Fehde! Und dann werden wir sehen, wer hier Bischof wird!“ Erich stand nicht der Sinn nach einer gewaltsamen Einsetzung in das hoch angesehene Amt des Magdeburger Erzbischofs, aber er wusste, dass er seinen Bruder nicht umstimmen konnte. Wenn der sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, würde er es ausführen, ohne Rücksicht auf Verluste.

Und so ging am Nachmittag beim Magistrat der Stadt Magdeburg der Fehdebrief des brandenburgischen Markgrafen ein.

 

*

 

Der Bürgermeister rief umgehend die Mitglieder des Stadtrates zusammen. Als sich die sechzehn Ratsherren versammelt hatten, lag der Fehdebrief des Markgrafen von Brandenburg mitten auf dem Tisch. Die Stimmen überschlugen sich. Nur mit Mühe gelang es einem der Schöffen, dem alten Conrad von Ackenhausen, Ruhe und Ordnung herzustellen. „Freunde, Mitbürger“, rief er und hob beschwichtigend die Arme. Als die Anwesenden allmählich zur Ruhe gekommen waren und ihre Plätze eingenommen hatten, fuhr er fort: „Wir haben doch nicht ernsthaft damit gerechnet, dass Markgraf Otto die Niederlage einfach so hinnehmen würde. Und nun ist das eingetreten, was wir befürchten mussten. Otto will Krieg gegen die Stadt führen, weil er uns für die Schuldigen an der Wahlniederlage seines Bruders hält. Also wird er unsere Kaufmannszüge überfallen, wo immer er sie antrifft, er wird Geiseln nehmen und nur gegen Lösegeld wieder frei lassen, vielleicht wird er sogar sein Heer gegen uns führen. Bedenkt die Folgen: Die Kaufleute anderer Städte werden ein so unsicheres Gebiet meiden. Das alles ist nicht gut für uns, für den Handel und Wandel in dieser Stadt. Was können wir tun, um die Fehde abzuwenden? Hat jemand einen Vorschlag?“ „Wir können den Domherren sagen, dass wir bereits jetzt vor Angst schlottern und dass sie seinen Bruder wählen sollen“, ließ sich Johannes Kramer vernehmen, und Verachtung klang aus seiner Stimme. Sofort wurden die Anwesenden wieder unruhig. Und wieder hob Ackenhusen beschwichtigend die Arme. Der alte Raimund Tuchscherer hatte sich von seinem Platz erhoben. „Wir können verhandeln, nicht wahr? Wir sind doch Händler! Handeln und Feilschen gehören zu unserem täglichen Geschäft. Was will der Markgraf? Dass sein Bruder hier Bischof wird und nicht Burchard von Querfurt, den wir wollten. Wenn aber nun auch nicht Burchard hier Bischof wird, dann hat jede Seite ein bisschen gewonnen, oder nicht?“ Die Anwesenden horchten auf und dachten nach. „Glaubst du, dass ihm das genügt, Raimund?“ Sein alter Freund und früherer Schwager Volker sah ihn fragend an. „Auf Dauer sicher  nicht, aber für den Moment vielleicht. Wir gewinnen Zeit, wenn wir mit ihm verhandeln. Wir können uns vorbereiten.“ „Wir müssen mit den Domherren sprechen, die auf unserer Seite sind. Ein neuer Kandidat muss her, er benötigt breite Unterstützung im Domkapitel, wenn er gewählt werden soll“, ließ sich Bürgermeister Klaus Rupert vernehmen. „Dann mach das. Am besten heute noch“, riet ihm Volker Gerber. „Und welche Antwort lassen wir dem Markgrafen auf das da zukommen?“, fragte Johannes Kramer und wies auf den Fehdebrief in der Mitte des Tisches. „Heute keine mehr. Und morgen treffen wir uns zur gleichen Stunde hier wieder, dann soll ihm Antwort werden“, schloss der Bürgermeister die Ratssitzung.

*

Nachdem sie mit ihren Verbündeten im Domkapitel gesprochen hatten, schlugen die Mitglieder des Magdeburger Stadtrates dem Markgrafen von Brandenburg einen Kompromiss vor: Nicht Burchard von Querfurt sollte Erzbischof werden, sondern Günther von Schwalenberg. Nach einigem Zögern schloss Otto IV., Markgraf von Brandenburg, einen Vertrag mit dem Magistrat der Stadt Magdeburg. Er entsagte darin aller Feindschaft gegen die Stadt.

Den gerade gewählten neuen Erzbischof Burchard von Querfurt brachte man mit der stattlichen Summe von 2000 Mark Silber dazu, auf das Amt zu verzichten, und ebenso erhielt Erich von Brandenburg weitere 2000 Mark Silber, damit er seine Kandidatur aufgab.

 

 

Januar 1278

 

Ende November siegten die Magdeburger in der Schlacht bei Aken über einen Verbündeten Ottos, den Sachsenherzog Albrecht, und gewannen die Stadt zurück, die dieser kurz zuvor besetzt hatte. Die Niederlage hatte die Verbündeten des Sachsenherzogs mit Markgraf Otto von Brandenburg an der Spitze auf den Plan gerufen. Bald schon wurde den Magdeburgern bekannt, dass Otto ein ansehnliches Heer versammelt hatte und es gegen das Erzbistum führte. Mitte Januar hatte er den Ort Frohse nahe Schönebeck erreicht und lagerte hier,  wenige Meilen vor Magdeburg. Auf seinem Weg hatte das Heer große Verwüstungen angerichtet. Otto ließ den Magdeburgern übermitteln, dass er am nächsten Tag seine Pferde in ihrem Dom einstallen lassen wolle.

Als sich diese Nachricht wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitete, kroch die Angst durch die Straßen. Die Menschen zogen sich in ihre Häuser zurück, versuchten, ihr Eigentum zu sichern oder zu verstecken und hofften, dass sie glimpflich davon kämen.

Markgraf Otto  hatte Kundschafter vor die Stadt geschickt, um die Lage und die Stimmung in der Stadt zu erfahren. Als die Kundschafter zurück ins Lager kamen, berichteten sie ihm, dass in der Stadt alles vollkommen ruhig sei. Jedermann sei furchtsam und verzagt. Das gefiel dem Markgrafen. Morgen würde er sie schlagen. Endlich.

Erzbischof Günther von Schwalenberg hatte sich angesichts des herannahenden Heeres gefragt, wie es ihm gelingen konnte, Stadt und Erzbistum gegen Otto IV. zu behaupten. Er hatte keine Antwort. Morgen würde der Markgraf vermutlich die Stadt angreifen und ihn von dem Platze verdrängen, auf den er durch Verzicht der anderen beiden Kandidaten gestellt worden war. Welches Schicksal drohte der Stadt? Würden die starken Mauern die Bevölkerung wie bei allen früheren Angriffen schützen können? Oder würde sie morgen Abend in Schutt und Asche liegen? Günther lenkte seine Schritte in Richtung der Hauskapelle der bischöflichen Residenz, um Kraft im Gebet zu finden, doch plötzlich schien es ihm, als ob ihn etwas mit Macht hinüber in den Dom zöge. Müsste nicht sein Gebet dort eine viel größere Kraft entfalten - im Hohen Chor, nahe der letzten Ruhestätte Kaiser Ottos I., der diese Stadt gefördert, das Erzbistum gegründet, die Stadt mit reichen Privilegien ausgestattet hatte? Günther verließ den Bischofspalast, lief die wenigen Schritte durch die Kälte des Winterabends hinüber zur Baustelle der Kathedrale. Der Mond schien so hell, dass er keine Laterne benötigte. Er zog die schwere Tür an der Paradiespforte auf und betrat das bereits fertig gestellte Querhaus. Am Altar im Hohen Chor kniete er nieder und betete, erflehte Gottes Beistand für einen Sieg am nächsten Tag, für den Schutz der Stadt und ihrer Bewohner und für das Ende all dieser Kriege.

Nachdem er gebetet hatte, erhob er sich und schritt durch den von Mondschein erhellten Chorumgang. In der Kapelle rechts neben der Grablege der Königin Editha blieb er stehen. Man sagte, dass hier Erzbischof Albrecht von Käfernburg begraben lag. Niemand wusste es mehr mit Bestimmtheit, denn die, die seinem Begräbnis beigewohnt hatten, hatten längst ebenfalls ihre ewige Ruhe gefunden. Aber am Kapitell eines der Pfeiler konnte man noch immer die Figur eines Bischofs erkennen, der mit einer Bestie rang. Jetzt, im ungewissen silbernen Licht, ahnte er sie mehr, als dass er sie sehen konnte. Es war ihm bei seinem Eintritt in das Domkapitel erzählt worden, dass diese Figuren den Sieg des Erzbischofs über Kaiser Otto IV. darstellten. Bei diesem Gedanken durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Otto IV., der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, hatte es nicht vermocht, die Stadt zu erobern und einzunehmen. Sollte sie sich nun einem Otto IV., dem Markgrafen eines ziemlich elenden, sandigen Landstrichs, beugen? Günther streckte seinen Rücken. Es schien ihm plötzlich, als sei eine schwere Last von seinen Schultern gefallen. Es musste ihm gelingen, die Kampfkraft seiner Truppen zu stärken… Ja, er musste das erzbischöfliche Heer  verstärken! Er musste die Bürger dazu bewegen, mit ihm gemeinsam gegen den Angreifer zu ziehen. Jeder, der eine Waffe führen konnte, musste sich unter seiner Fahne versammeln… Nein, nicht unter der erzbischöflichen Fahne – unter der des heiligen Mauritius! Er lief, so schnell es ihm seine Würde erlaubte, durch den Chorumgang zur Statue des Heiligen und betrachtete sie. In seiner goldenen Rüstung,  mit Schwert und Schild, war der dunkle Heilige eine wehrhafte und gleichzeitig prachtvolle Erscheinung. Die Mauritius-Verehrung in Magdeburg war groß. In seinem Namen wollte Günther die Magdeburger versammeln, unter seiner Fahne sollten sie dem Feind entgegen ziehen, und der Sieg wäre ihnen gewiss. Er winkte einen der Brüder herbei, die Dienst am Altar taten, und ließ sich eine Laterne geben. Er bedeutete dem Bruder, der sich anschickte ihn zu begleiten, dass er allein sein wolle, und eilte dann zur Heiligensammlung, wo, wie er wusste, auch die Fahne des Heiligen Mauritius aufbewahrt wurde. Er hielt die Laterne hoch und sah unter die Leinentücher, die zum Schutz vor Staub über die kostbaren Heiligtümer gebreitet waren. Nachdem er die Fahne gefunden hatte, nahm er vorsichtig den kostbaren Überzug aus bestickter Seide ab, unter dem die eigentliche Fahne verborgen war. Weißer Samt kam hervor, bestickt mit einem Kreuz auf der einen und dem Abbild des Heiligen Mauritius auf der anderen Seite. Er führte die untere Ecke des Samtes an seine Lippen und küsste den Stoff. Dann versah er die Fahne wieder mit ihrem seidenen Schutz, schlug sie vorsichtig in ein großes Stück Leinen ein und eilte hinüber in die Residenz. Hier ließ er sich sein prächtigstes Messgewand bringen und sich ankleiden. „Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Mittel“, dachte er sich und ließ die Domherren, die sich längst zur Ruhe begeben hatten, aus ihren Häusern holen.

Nachdem er sie alle um sich versammelt hatte, sagte er ihnen, dass Gott ihm ein Zeichen geschickt habe. Der Heilige Mauritius sei ihm im Traume erschienen und hätte ihm den Sieg über den Markgrafen verheißen, wenn das erzbischöfliche Heer morgen unter seiner Fahne ins Feld ziehen würde. Bei diesen Worten sah Günther, wie sich in den müden, mutlosen Gesichtern ein wenig Hoffnung breit machte. Er ließ seinen Mitbrüdern etwas Zeit, damit diese Hoffnung sich bis zum letzten unter ihnen fortsetzen konnte. Ein leises Raunen stieg auf, aus dem Günther aber keinen Zweifel hörte, nur Mut. Da zog der Bischof mit einer einzigen Handbewegung das Leinen von der Fahne des Heiligen Mauritius, und plötzlich war es, als sei der Raum heller als zuvor. Günther ahnte, dass dies eine Wirkung der hellen Seide und der goldenen Stickereien war, die im Licht der Kerzen aufleuchteten. Er las die Wirkung an den Gesichtern ab. Dann nahm er den seidenen Überzug ab und präsentierte den Herren die eigentliche Fahne so, dass das Antlitz des Heiligen Mauritius ihnen zugewandt war. Manch einer hatte die Fahne noch nie ohne ihren seidenen Schutz gesehen. „Deo gratias!“ hörte er einige murmeln. Andere sprachen „Gelobt sei der Herr!“ oder fielen auf die Knie.

Wenn der Anblick der Fahne auf die im Umgang mit heiligen Reliquien durchaus vertrauten Domherren eine solche Wirkung hatte, wie mochte er dann erst auf die Gemüter der Bürger wirken, dachte Günther mit Genugtuung. Dann befahl er den Domherren, in ihre Häuser zu gehen und sich für eine feierliche Prozession anzukleiden, die er bei Tagesanbruch  zum Marktplatz führen wolle.

Im fahlen Licht des gerade anbrechenden Tages versammelten sich die Domherren und ihre Vasallen auf dem weiten Platz vor dem Palast des Erzbischofs und reihten sich immer zu zweien hinter dem Erzbischof ein. Fackelträger begleiteten den Zug, denn Günther wollte, dass die Prozession gesehen wird. Singend zogen die Geistlichen durch die gerade erwachende Stadt, geführt von ihrem Bischof, der sich die Fahne des Heiligen Mauritius vorantragen ließ, zog über den Breiten Weg in Richtung Markt, und wo sie gingen, öffneten sich die Fenster und Türen der Häuser, blickten ihnen die Menschen nach oder begannen, ihnen zu folgen. Als der Zug schließlich den Marktplatz und das Rathaus erreicht hatte, stellten sich die Geistlichen auf Günthers Wink in einem Halbkreis hinter ihm auf. Sie sangen noch einige Lieder, denn Günther wollte den Menschen Zeit geben, sich zu versammeln, um ihn anzuhören. Bald schon bahnten sich die Mitglieder des Magistrats den Weg durch die Menge und begrüßten den Stadtherrn. Der hob seine Rechte, bewusst offen lassend, ob es zum Segnen der Menge oder zum Zeichen sein sollte, dass er sprechen wolle. Als es daraufhin ruhig geworden war, hub er an und erzählte noch einmal die Geschichte, wie ihm heute Nacht der Heilige Mauritius erschienen sei und ihm den Sieg versprochen habe, wenn sein Heer unter seiner Fahne kämpfe. Und Günther wies auf die im ersten Morgenlicht glänzende Seide. Während der ersten Minuten seiner Ansprache an die versammelten Bürger hatte er Mühe, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken, doch schon bald merkte er, wie ihn eine bis dahin unbekannte Zuversicht und Begeisterung erfüllte, die seiner Stimme Festigkeit verlieh. Er forderte die Bürger auf, sich mit ihm unter der Fahne des Schutzheiligen der Stadt zu versammeln und mutig dem Feinde entgegen zu ziehen. Er dankte den Magdeburgern für die bisher gezeigte Treue ihm gegenüber und für den schon gezeigten tätigen Beistand. Natürlich erwähnte er den Sieg in der Schlacht bei Aken über seine Feinde, den er nur durch die Hilfe seiner treuen Magdeburger erringen konnte. Ottos Drohung, seine Pferde noch heute im Dom einzustallen, ließ er nicht unerwähnt. Er blickte in die Gesichter der Bürger, sah, dass er noch nicht alle auf seiner Seite hatte, und überlegte, womit er sie endgültig überzeugen könne. Schließlich versprach er ihnen für sich und ihre Nachkommen wichtige Vorteile und Freiheiten, die er ihnen bewilligen wolle, wenn sie ihn gegen Otto von Brandenburg unterstützten. Nachdem er dies gesagt hatte, machte sich Jubel unter den Anwesenden breit. Die Bürger erklärten durch ihren Bürgermeister, dass sie den Kriegszug gegen Otto unterstützen wollten, ein paar eilten davon, um die Sturmglocke zuläuten. Alle waffenfähigen Männer eilten in ihre Häuser und machten sich bereit. Die Reichen stiegen in ihre Rüstungen und ließen sich die starken Kampfrösser satteln. Mit ihren Knechten, ihren Lanzen und Schwertern eilten sie vor das Sudenburger Tor, wo sich das Heer des Erzbischofs sammelte.

Die Handwerksmeister legten ihre Sarröcke an und kamen mit Schwertern und leichteren Waffen, die meisten von ihnen ebenfalls zu Pferde. Die Gesellen griffen nach ihren langen Spießen und schlossen sich dem Heer an. Die Ärmeren aber nahmen alles, was zum Hauen oder Stechen taugen mochte, und eilten zu Fuß vor das südliche Tor.

Der  Erzbischof hatte inzwischen das seidene Messgewand  gegen seine Rüstung getauscht und die perlenbestickte Mitra gegen eine Hirnhaube mit Nackenschutz aus Ringpanzergeflecht. Später,  vor dem Kampf, würde er darüber noch den Topfhelm ziehen. Er saß auf seinem starken, schweren Schlachtross und blickte über die sich sammelnde Menge. Die Zuversicht, die in der vergangenen Nacht Besitz von ihm ergriffen hatte, war geblieben und verstärkte sich, als er die Masse kampfbereiter Männer sah, die sich hier eingefunden hatte. Und noch immer kamen Männer zu Fuß mit Keulen und Spießen durch das Tor geeilt.

Nachdem er noch eine Messe unter freiem Himmel gehalten hatte, gab er das Zeichen zum Aufbruch. Es war ein kalter Wintertag. Die Atemluft der Pferde und Männer stieg in kleinen Wölkchen auf. Das Heer zog nach Südosten, wobei es zunächst dem Lauf der Elbe folgte. Kurz vor der Mündung des Flüsschens Sülze in die Elbe, wandte Günther von Schwalenberg sich nach Westen, dem Lauf der Sülze folgend. „Aber mein lieber Bischof, der Brandenburger steht doch bei Frohse! Wozu der Umweg?“ Burchard von Querfurt war aufgerückt und ließ sein Pferd neben dem des Erzbischofs gehen. „Ich habe heute früh, gerade noch zur rechten Zeit, Nachricht von unseren Verbündeten erhalten, von Otto von Anhalt und einigen thüringischen Herren. Sie wollen von Egeln kommend uns um die Mittagszeit beim Dorfe Sohlen treffen und ihre Truppen den unsrigen anschließen. Außerdem wird der Markgraf wohl kaum erwarten, dass wir den Weg durch eine sumpfige Niederung nehmen.  Hier, im eingeschnittenen Tal der Sülze, wird er erst spät unser Herannahen bemerken und kann auch  nicht sofort die Stärke unserer Truppen erkennen.“ Burchard nickte. Das Sülzetal schnitt sich als Niederung in das Gelände ein. Es bot ihrer Streitmacht eine gute Deckung. Markgraf Otto würde mit Sicherheit erwarten, dass sie über die bequeme Heerstraße kämen.

Als das erzbischöfliche Heer den Ort Sohlen erreicht hatte, war es Mittag geworden. Günther von Schwalenberg ließ das Heer rasten. Ungeduldig erwartete er die Verbündeten. Was, wenn sie nicht rechtzeitig eintrafen? Der Brandenburger hatte eine starke Streitmacht aufgeboten, fast dreitausend Mann hatten seine Kundschafter geschätzt.  Und hauptsächlich schwer gepanzerte, kampferprobte Ritter! Günther blickte über sein eigenes Heer: Zahlenmäßig mochte es dem brandenburgischen gleich kommen, aber es bestand zu fast der Hälfte aus leichtbewaffneten  Stadtbürgern, die wenig Erfahrung im Kampf auf offenem Felde hatten.  Da, Hörnerklang! Die Verbündeten. Günther war erleichtert, als er sah, dass die Truppen, die Otto von Anhalt ihm nun zuführte, durchweg gepanzerte Reiter waren. Mit großem Jubel wurden sie empfangen.  Dann befahl der Erzbischof, dass sich die Truppen formieren sollten. Zwischen den Sohlener Bergen und dem Frohser Berg zog das verstärkte  Heer nun hinunter in Richtung Elbe.

Günther von Schwalenberg ritt wieder an der Spitze seiner Truppen. Als er die Ebene von Frohse vor sich hatte, machte er Halt, damit die Fußtruppen aufrücken konnten. Das künftige Schlachtfeld, das sich nun vor ihm ausbreitete, bildete ein längliches, verschobenes Viereck. Durchschnitten wurde es von der großen Heerstraße, die von Magdeburg kommend weiter an Schönebeck vorbei nach Bernburg und schließlich Halle führte. Zu Fuß hätte man wohl eine dreiviertel Stunde gebraucht, um die Ebene in der Länge abzuschreiten, in der Breite wohl eine halbe Stunde, schätzte der Erzbischof. Sein Plan, den Feind durch das Herannahen aus Westen, aus Richtung Sohlen, zu überraschen, war nicht aufgegangen. Die Truppen des Markgrafen hatten sich bereits formiert und erwarteten das erzbischöfliche Heer.

Als die Magdeburger die Ebene erreicht hatten, rückte das brandenburgische Heer in drei Abteilungen auf die Magdeburger vor, und es entbrannte ein heftiger Kampf. Die Magdeburger hatten kaum ihre Spießer vor den Reitern in Aufstellung bringen können, als die Truppen des Brandenburgers bereits gegen sie anbrandeten. Es gelang, die Reihen zu halten, die Brandenburger zogen sich zu einem zweiten Angriff zurück. Diesmal verloren die  Magdeburger viele ihrer Pferde. Sie kämpften aber entschlossen zu Fuß weiter und setzten den feindlichen Truppen stark zu. Auf beiden Seiten gab es große Verluste. Günther kämpfte mit dem Streithammer, aus dem Sattel wütend auf die Gegner einschlagend,  bis sein Pferd getroffen in die Knie ging. So behende, wie es ihm seine Rüstung erlaubte, sprang Günther aus dem Sattel und kämpfte erbittert weiter, den schweren Kriegshammer gegen die Rüstungen und Helme der Gegner schwingend. Als sein Arm erlahmte, zog er das Schwert und kämpfte weiter. Der Heilige Mauritius schien dem Magdeburger Heer gewogen, denn allmählich gewannen sie die Oberhand.

Als der Markgraf sah, dass einige seiner besten Männer gefallen waren, befahl er den Rückzug. Er wollte sich mit dem Heer in Richtung Schönebeck und Calbe absetzen und folgte der Heerstraße. Doch war diese, besonders an dem vor dem Örtchen Frohse befindlichen Damm, zu schmal, um die ungeordnet Fliehenden aufzunehmen. Sie wichen in die fest gefrorene Niederung zu beiden Seiten der Straße aus. Einige der Pferde glitten auf der Eisfläche aus, stürzten und brachen sich die Beine. Ihre Reiter versuchten, zu Fuß weiterzukommen. Die schweren Schlachtrösser mit den Panzer tragenden Rittern aber brachen in das Eis ein, warfen ihre Reiter ab und konnten sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien. Die schweren Ritter kamen auf dem Eis nur mühsam voran, sofern sie nicht ebenfalls einbrachen. Die Verfolger metzelten jeden nieder, der sich nicht sofort gefangen gab. Das Blut der Getöteten floss in einen kleinen Bach, der die Stelle durchzog; er würde in Zukunft die „Blutschwemme“ genannt werden. Es gelang den Magdeburgern, mehrere Hundert Gefangene machen. Unter ihnen befand sich auch der Markgraf, der am Abend seine Pferde in den Dom einstallen lassen wollte. Als Günther seinen Widersacher unter den Gefangenen erblickte, schlich sich so etwas wie Genugtuung in seine Seele.

Die Ritter und Fußsoldaten des Markgrafen, die nicht an der „Blutschwemme“ erschlagen oder gefangen genommen wurden, entkamen in Richtung Schönebeck und Barby. Viele der ins Eis eingebrochenen Pferde musste man mit einem Schnitt durch die Kehle von ihren Qualen erlösen.

Eigentlich war es ein großartiger Sieg.

Als sich die erzbischöflichen Truppen schließlich in Richtung Magdeburg in Bewegung setzten, ließ Günther von Schwalenberg das Pferd im Schritt gehen. Sein treuer Brauner war auf dem Schlachtfeld geblieben. Sobald das Heer abgezogen war, würden sich die Krähen darüber hermachen. Jetzt ritt er einen jungen, kräftigen Hengst. Günther ließ die Zügel locker und hing seinen Gedanken nach. Mochten andere an der Spitze reiten, er würde erst in Sichtweite der Stadt diesen Platz wieder einnehmen. Trotz des heutigen Sieges und im Wissen, dass mit diesem Sieg und mit der Gefangennahme seines erbitterten Gegners, des brandenburgischen Markgrafen, zunächst einmal Frieden im Erzstift herrschen würde, gab es kein Hochgefühl in ihm. Die Verluste beliefen sich mit Sicherheit auf dreihundert Mann.

So war es denn kein Triumphzug, mit dem der Erzbischof nach der siegreichen Schlacht in die Stadt einzog. Er hatte Boten vorausgeschickt, die die Einwohner vom glücklichen Ausgang der Schlacht, aber auch von den hohen Verlusten in Kenntnis setzen sollten. Als er durch das Sudenburger Tor einritt, sah er die Frauen und Mädchen und alten Männer zu beiden Seiten des Breiten Weges stehen in Erwartung der Männer. Nur vereinzelt waren Jubelrufe zu vernehmen. Als man aber die Gefangenen in die Stadt führte, darunter den Markgrafen in Fesseln, sah es für einen Moment so aus, als wollten die Magdeburger über ihn herfallen und ihn in Stücke reißen. Die Ritter des Erzbischofs konnten die Menge nur mit Mühe zurückdrängen. Einer hübschen jungen Magd gelang es, sich durch die Reihen der Ritter zum Markgrafen durchzudrängen. Als sie ihn erreicht hatte, spuckte sie ihm mitten ins Gesicht. Ihr Gesicht war wutverzerrt, Tränen liefen über ihre Wangen, als sie sich wortlos umwandte und in die Reihen der Wartenden zurücktrat. Die Umstehenden klopften ihr anerkennend auf die Schulter oder nickten ihr stumm zu. Günther wandte sich ab.

Er hatte es eilig, in die Residenz zu kommen. Die Residenz, dachte er, nicht seine Residenz. Der Papst hatte ihn noch immer nicht bestätigt, und solange er das Pallium nicht erhalten hatte, fühlte er sich wie in Wartestellung, auf Abruf sozusagen. In den Räumen angekommen, die er seit seiner Wahl bewohnte, ließ er sich die Plattenrüstung abnehmen, dann das schwere Kettenhemd und schließlich den gepolsterten Gambeson, den er  darunter getragen hatte. Als er endlich allein war, setzte er sich in den Scherenstuhl am Fenster seines Gemachs und überlegte, wie er mit seinem hochadligen Gefangenen, dem Markgrafen Otto, und den mehr als dreihundert gefangen genommenen Rittern und Edelknechten verfahren sollte. Otto trug allein die Schuld an den hohen Verlusten des heutigen Tages, das müsste man den Bürgern deutlich vor Augen führen und ihnen etwas geben, wogegen sie ihren Hass richten könnten.

Es klopfte, Burchard von Querfurt trat ein. Auf Günthers Wink nahm er auf der Truhenbank am Fenster Platz und begann: „Was sollen wir jetzt wohl mit dem hochedlen Gefangenen tun? Er steht noch unten im Hof, gebunden und bewacht. Der Himmel ist klar, die Nacht wird also kalt werden.“

„Wir sollten ihn im Palast unterbringen.“

„Das wird schwierig, denn wir haben kein Verließ, nichts, worin wir ihn sicher verwahren könnten.“

„Doch, das haben wir. Es gibt die Kammer neben der Küche, die mit einem schweren Riegel gesichert ist. Lass die Vorräte hinaustragen. Dort mag er die heutige Nacht verbringen. Die christliche Barmherzigkeit gebietet uns, ihm Wasser und Brot zu geben und einen Eimer für die Notdurft. Ein wenig Stroh für ein Lager. Das mag genügen. Bequemlichkeiten wird er nach allem nicht erwarten.“ Burchard nickte, erhob sich und wollte gehen. „Noch einen Moment, Burchard! Schick morgen nach einem Zimmermann, der einen starken Käfig aus Holz fertigt, worin wir den Markgrafen den Bürgern der Stadt zur Schau stellen können.“

„Du willst…?“

Der Erzbischof nickte. „Nach dem heutigen Tage gibt es kaum eine Familie in dieser Stadt, die keinen Verlust zu beklagen hat, gleich, ob tot oder verwundet. Wir wollen ihnen denjenigen zeigen, der die Schuld daran trägt.“

Burchard verstand und nickte bedächtig. Dann verbeugte er sich und ließ den Erzbischof allein.